2. April 2018

Hochsensibel Zug fahren

Jeden Montagmorgen sitze ich in der überfüllten S-Bahn. Ich bin auf dem Weg nach Zürich, um „Bewegung & Entspannung“ für die Teilnehmer eines Berufsintegrationsprogramms zu unterrichten. Ich liebe diesen Job. Darum nehme ich es auf mich Zug zu fahren. Ich habe meine liebe Mühe mit überfüllten S-Bahnen. Das war nicht immer so.

Als Kind war ich oft bei meiner Grossmutter. Sie holte mich jeweils in Lenzburg am Bahnhof ab und wir stiegen in das kleine rote Bähnli welches uns zu ihrem Dorf brachte. Ich liebte es mit meiner Grossmutter Zug zu fahren. In Lenzburg stiegen immer Schüler einer Behinderteneinrichtung ein. Die meisten hatten ein Down-Syndrom. Das war ein Hallo! Da wurde jeder Reisende persönlich begrüsst. Es wurde uns erzählt, was sie gerade so tun und wer ihn wen verliebt sei. Mit offenen Augen und Mund konnte ich sie ungeniert anstarren und ihnen zuhören. Ich war fasziniert von ihrer Offenheit über Dinge zu sprechen, die ich von Erwachsenen so nicht hörte und davon laut, fröhlich und einzigartig zu sein.
Als Teenie habe ich viel Zeit im Zug verbracht. Von Genf, wo ich mal gelebt habe, nachhause nach Zürich. Von Zürich zu meinem damaligen Freund nach Lausanne. Dann Berlin, Basel, Paris. Mit der Liebe lernte ich neue Städte und Länder kennen und bei den Zugfahrten Bücher, Schulstoff und neue Freunde. Mein liebster war Matt. Ich war auf dem Rückweg von Lausanne nach Zürich. Er stieg in Bern zu. Der Zug war schon ziemlich voll und er irrte kompliziert auf dem Gang herum. Kompliziert darum, weil er mich gesehen hatte, weiter ging, wieder zurück kam, um sich den letzten Platz in meinem Abteil zu ergattern. Er fragte mich was ich lese. Es war wohl der Anatomie-Schinken. Wir unterhielten uns angeregt bis nach Zürich. Es entstand eine Freundschaft, die inspiriert war von Fotografie, Mode und dem Reisen und geprägt von einer seltenen Offen- und Direktheit.
Ein Mal war ich von Hamburg unterwegs nach Berlin. Die Mauer stand noch und die Grenze war zu. Mit mir im Abteil sassen ein Punk, ein Chinese und ein Araber. Mitten in der damaligen DDR, auf einem weiten Feld, blieb der Zug stehen und die Ostdeutsche Bahnpolizei machte Kontrolle. „Visa bitte!“ Visa was?! dachte ich mir. Ich zeigte meine Bahnkarte und meinen Schweizer Pass. „Visa bitte!“ „Was für ein Visa? Ich steige hier nicht aus.“ sagte ich schmunzelnd. Der Punk stiess mich ins Schienbein, der Araber schaute betreten aus dem Fenster und der Chinese murmelte gegen den Himmel und schloss seine Augen. „Sie brauchen ein Visa, sonst lassen wir Sie nicht durch Deutsche Demokratische Republik!“ Ohä! Obwohl auf mich nicht alle weiblichen Attribute zutreffen, verfüge ich doch über schauspielerisches Talent. Mit grossen Augen schaute ich die beiden Beamten an, dachte an „Always On My Mind“ von Elvis, weil mir da immer die Tränen kommen und erklärte den beiden in verzweifeltem Ton, dass ich nicht gewusst habe, dass ich ein Visa benötige. „Dann können Sie nicht weiterfahren!“ dröhnte einer. „Aber ohne Visa können Sie mich unmöglich aussteigen lassen!“ flehte ich mit schon wässrigen Augen. Irgendwie sahen die beiden das dann auch so und liessen mich ausnahmsweise weiterfahren. Kaum waren die beiden weg, wurde ich vom Punk zurecht gewiesen, der Araber erklärte mit erhobenen Händen, dass ich achtsamer sein soll und der Chinese rollte die Augen und murmelte etwas das wohl „clazy, clazy“ heissen mochte.
Als ich Kinder bekam, fuhr ich mit meiner ersten Tochter mit der S-Bahn von Zürich nach Winterthur. Sie mag vielleicht zwei Jahre alt gewesen sein und sass einem adrett gekleideten Herrn gegenüber. Dieser gab sich unbeirrt Mühe meine Tochter anzulächeln. Mitten im Tunnel beugte sich meine Tochter nach vorne und rief: „AAsloch!“, lehnte sich zufrieden zurück und verschränkte ihre Arme. Den restlichen Weg setzten die Reisenden in heiterer Stimmung fort.
Jahre später wurde mir beim Zug fahren plötzlich heiss. Mein Puls raste und ich musste dann dringend aufs Klo. Diä Sieche waren oft verschlossen und ein Mal kam es vor, dass ich an irgendeinem Bahnhof ausstieg, um dort das Klo aufzusuchen. Ich fand mich komisch und stellte meine Reaktionen in Frage. Dasselbe geschah mit mir in Shoppingzentren und anderen Grossanlässen an denen viele Menschen auf zu engem Raum sind. Ich realisierte, dass ich nicht über die Fähigkeit verfügte, als Schaf zu reisen. Blick starr, Kopf runter, Kopfhörer auf, unbewegliche Mimik. Ich verfüge über die Fähigkeit einen Raum (Zug) betreten und innert Sekunden alles aufzusaugen. Ich registriere, wer im Zug sitzt, wer was trägt und nehme sofort auf, wie die Reisenden drauf sind, was in ihnen vorgeht, ob sie froh, traurig oder genervt sind. Das ist wie Avatar in real life und ich benötige dafür wenige Sekunden. Puh und das ist ganz schön heftig. Ich stieg erst mal aufs Auto um. Da bin ich unabhängig, muss mich nicht mit fremden Wesen abgeben und kann losfahren wann ich will. Ich lernte viel über mich selber. Darüber wie es ist, wenn dir so viel an anderen auffällt, du empfindlicher auf Geräusche und Gerüche reagierst und du es gar nicht magst, wenn dir zu viele Menschen zu nahe sind. Ich fand meine Strategien mit diesen Situationen umzugehen, ohne sie zu vermeiden. Heute lege auch ich die Kopfhörer auf. Meistens ohne Musik. Jedoch bereit mir jederzeit mit Musik einen Schutz zu bieten. Oft checke ich meine Termine oder schreibe mir meine Eindrücke auf. Und ich finde es immer noch toll mit einem anderen Reisenden zu sprechen. In Zürich beim Unterrichten angelangt erzählen mir Teilnehmende oft davon dass sie nicht Zug fahren können, weil sie dabei Panik bekommen. Ich frage sie dann jeweils: „Ist es normal jeden Morgen in einem überfüllte S-Bahn zu steigen und keinerlei mentale oder körperliche Reaktionen zu bekommen?“ Nein Sorry ist es nicht. Meine Teilnehmer sollen die Sicht bekommen, dass ihre Sensitivität etwas Besonderes ist. Und dann arbeiten wir an den Strategien.
Wenn ich vor dem Mittag wieder nachhause fahre, ist die S-Bahn wunderbar leer. Ich setze dann trotzdem meine Kopfhörer auf um „2 Minuten für Dino“ zu hören. Eine Montags-Video-Kolumne über Eishockey. Hey, ich mein der Typ spricht Püntner Dialekt. The Magic of Accents. Und ich liebe seinen Humor. Er schafft es immer, dass ich laut loslache und die anderen Reisenden erheitere. Das ist dann Zug fahren wie ich es liebe.

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